Königskinder ohne Königreich

Seit weit über 20 Jahren arbeite ich mit Kindern in der Buchwerkstatt. Kinder können dort aus ihren Träumen, ihren Phantasien, ihren Wünschen, ihren Ängsten und Erinnerungen Bücher machen. Sie erzählen, schreiben, malen, drucken, lesen. Ich habe in der Zeit viele berührende, witzige, turbulente Geschichten hören dürfen – es waren unzählige. An viele Geschichten erinnere ich mich und an die Kinder, die sie geschrieben haben. Es gab immer wieder Worte, die mein Herz inne halten ließen. Momente der Rührung und manches brachte schon Tränen in meine Augen. Es gab brilliante Ideen und viele Kinder überraschten mich mit einer unfassbar klugen Sicht auf das Weltgeschehen und die Menschen. Auch in den letzten Wochen und Monaten durfte ich Begleiter der Kinder sein, die mir und der Welt da draußen ihre Geschichten erzählten. Aber nach den all den Jahren war in diesem Jahr etwas anders. Dieses Anderssein wäre leicht zu übersehen, ich musste genau hineinfühlen, um es zu erkennen und genau benennen kann ich es nicht. Es fühlt sich an wie eine leise Traurigkeit, eine Leerstelle, eine große Frage an die Erwachsenen da draußen. Ein zögerliches: Schaut uns Kinder an! Hört uns endlich zu! Nehmt uns ernst! Gern würde ich eine kleine Geschichte mit euch teilen. Eine Geschichte, die auch ganz leise erzählt wurde, so nebenbei und doch ist diese Geschichte so groß, das jeder sie hören sollte.

Prinzessin Melek

eine Geschichte von Joudy Osman, 10 Jahre alt

Titelbild: Jale Hartios

Es war einmal eine kleine Prinzessin. Sie hieß Melek. Sie hatte so viele Kleider und Kronen. Sie wohnte in Syrien. In Syrien gibt es so viel Krieg. Sie hat so viel erlebt. Sie liebte ihren Vater. Aber ihr Vater ist gestorben, im Krieg. Leider! Sie wohnt jetzt mit ihrer Mutter und ihrem großen Bruder zusammen. Und sie hat leider keine Schule. Die Schule ist im Krieg kaputt gegangen. Aber ihre Tante hatte am Samstag Hochzeit. Das geht auch im Krieg. Melek hatte ein schönes Kleid. Sie hat es tief versteckt in ihrem Kleiderschrank. Das Kleid war so schön weiß und hatte pinke Sterne.

Aber ihre Mutter fand ihr eigenes Kleid nicht. Ihr Bruder ging nicht mit auf die Hochzeit. Er war mit seinen Freunden schon auf einer anderen Hochzeit. Als der große Bruder gegangen war, hatte ihre Mama nochmals das Kleid gesucht. Und es immer noch nicht gefunden. Melek sagte: „Mama, wo ist dein Kleid?“ Mutter sagte: „Ich weiß es nicht! Ich habe es in den Schrank getan. Als ich es holen wollte, war es weg und in einer Stunde fängt die Hochzeit an! Was sollen wir machen, Kleine?“ „Mama, wenn du dein Kleid nicht findest, gehen wir nicht!“

Die Mutter sagte: „Kleine, geh du dich vorbereiten und vielleicht finde ich es ja!“ Melek ging. Was sollte die Mutter jetzt machen? Wenn sie das Kleid nicht mehr finden würde. Sie mussten los, in wenigen Minuten fing die Hochzeit hat. Sie guckte nochmals in den Schrank. Als sie in den Schrank guckte, sah sie nur ein anderes Kleid. Es war rot. Dann zog sie dieses Kleid an. Melek kam ins Zimmer und sah ihre Mutter glitzern. Melek sagte: „Oha, wie schön bist du, Mama!“ Die Zeit rannte davon. Sie liefen los.

Die Hochzeit dauerte fünf Stunden. Melek ging mit ihrer Mutter nach Hause. Aber da war kein Haus mehr. Nur noch Schutt und Asche. Nach einem Monat war Melek keine Prinzessin mehr. Ihre Kronen waren weg und alle ihre Kleider waren verschwunden. Alles war verschwunden. Sie flohen zu ihrer Tante Maria in den Libanon. Dort blieben sie. Im Libanon. Maria hat ein Kind. Das Kind heißt Amira. Sie hat so viel mit Melek gespielt. Irgendwann kam auch Meleks großer Bruder Ali. Er war sehr traurig und sagte: „Warum passiert uns nur sowas?“ Melek war traurig. Sie saß im Zimmer ihrer Cousine und weinte. Sie sagte: „Ich bin keine Prinzessin mehr.“ Ihre Mutter kam ins Zimmer. Und sie sagte: „Doch, du bist eine schöne Prinzessin und Prinzessinnen dürfen nicht traurig sein.“ Amira bastelte eine Krone aus Tulpen und legte sie auf Meleks Hand.

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