Würde ich ein Drehbuch anstelle dieses Textes über mein Erleben in jenem Sommer in Brüssel schreiben, würde die erste Szene blutgetränkten Asphalt zeigen. Die Hauptdarstellerin, ich, würde mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände auf die Ohren pressen, um all die Schreie der geschundenen, gequälten Seelen nicht länger hören zu müssen.
Man würde mich sehen, wie ich in den Straßen Brüssels stehe, mitten in der Altstadt auf jener Straße, die gesäumt ist von Antiquitätengeschäften. Es wird da einige geben und ich habe mir weder einen Namen noch einen konkreten Ort gemerkt. Wer schon einmal dort war, wird es sicherlich erkennen. Nur wenige Schritte eine große Treppe hinunter, wurde ich überflutet von dem Grauen, das ich tief im Inneren schon erahnt hatte. Ich ging also in Begleitung von Freunden jene Treppe in die Altstadt hinab, um einen Flohmarkt zu besuchen, der sich, unten angelangt, vor meinen Füßen ausbreitete. Ein Verwirrspiel für die Augen und weiteren Sinne. Gerümpel auf Decken und Tischen ausgebreitet, ein Meer aus Braun- und Grautönen. Dann bogen wir nach rechts ab und bevor es in jene Straße ging, fiel mein Blick auf einen ausgestopften Affen, der in grotesker Pose in einem Schaufenster stand und mir wie zur Warnung die gebleckten Zähne zeigte. Da hätte ich wissen müssen, dies ist der Punkt, an dem man besser umkehren sollte. Der Affe war das eindeutige Zeichen, die erste Szene, in der die gruselige Musik einsetzt. Doch wir gingen in der Gruppe weiter und ich direkt in mein Verderben hinein. Mein Blick schweifte von links nach rechts, von Schaufenster zu Schaufenster. Bruchstücke von blassen Farben, Staub auf alten Teetassen, dazu ein feuchter, dumpfer Geruch aus geöffneten Ladentüren. Ein Raunen in der Luft und das Gefühl, dass in der Hitze des Tages die Luft langsam knapper wurde. Ich spürte das Kribbeln in mir aufsteigen. Von den Füßen an aufwärts, die wie auf dem Boden festklebten wie auf geschmolzenem Karamell. Ich atmete ruhig ein und aus. Der Blick nach links zeigte Ölbilder. Darstellungen von weißen Menschen in Rüschenkleidern, beim Picknick oder Portraits mit aufrechter Haltung und exotischem Blumenschmuck im Haar. Unzählige Jagdtrophäen mit über die Jahrzehnte hinweg stumpf gewordenen Glasaugen. Büffelköpfe, Zebraköpfe, winzige Giraffenköpfe auf langen Hälsen, dicht nebeneinander gereiht. Eine Galerie der Verachtung jedwelcher göttlichen Idee. Von links das Quietschen eines Jahrmarktkarussells, auf dem Kinder im Eingangsbereich des Antiquitätengeschäftes fahren konnten. Mir blieb die Luft weg, als würden mich Hände von hinten greifen und meinen Brustkorb umklammern. Sie drohten mein Herz zu zerquetschen. Nur Hände wohlgemerkt. König Leopold der II, König von Belgien 1835-1909, hackte gern die Hände der Kongolesen ab. Wenn sie nicht schnell genug arbeiteten oder aus sonst welchen Gründen. Er hackte auch Füße ab und auch die Hände und Füße der Kinder der Arbeiter. Wer Bilder suchen mag, unter dem Stichwort Kongogräuel wird er schnell fündig werden. Sicherlich war Belgien nicht das einzige Land Europas, das sich an der unmenschlichen Kolonialisierung und Versklavung weiter Teile der übrigen Welt schuldig gemacht hat, aber irgendwie war Leopold doch so etwas wie der Jigsaw der Kolonialgeschichte. Nur in Wirklichkeit, mit echten Menschen, nicht mit Schauspielenden. Auf der Straße wurde mir schwindlig und ich rang nach Luft, wollte nur noch weg aus all dem kolonialen Gerümpel, den blutgetränkten Jagdtrophäen, den nutzlosen Kleinoden jener vergangenen Zeiten. Ich versuchte durch die Straße zu rennen, den Blick starr geradeaus, weg von all dem Grauen und schaffte es auf einen großen Platz. Erschöpft, aber dem Horror entkommen, ließ ich mich auf eine Bank fallen. Ich rief meine Freunde an, wir vereinbarten einen Treffpunkt. Ich war in Sicherheit, raus aus der Altstadt und in der Neustadt angekommen. Ich war dem Bösen noch einmal mit heiler Haut entkommen. Wer von euch gern Horrorfilme schaut, der ahnt bereits jetzt, dass ich mich in falscher Sicherheit wägte, dass es noch lange nicht vorbei war. Da saß ich also in der Neustadt und hatte die alten schrecklichen Zeiten hinter mir gelassen. So wie Europa langsam seine blutige Geschichte hinter sich gelassen hatten. Es gab damals mutige Menschen, die das Grauen im Kongo öffentlich machten und irgendwie tut es den Belgiern ja auch leid was damals geschehen ist. Ein Verrückter halt, ein Monster, der Leopold. Ich erholte mich, gab den Zielort des Treffens in mein Handy ein und schaltete das Navi ein. Da lachte ich sogar. Wie albern, als Fußgänger mit der Navi-App durch die Straßen zu laufen. Und wie ich da so lachte und den Blick auf meinem Handydisplay hielt, bemerkte ich viel zu spät, wo ich zum Stehen gekommen war, da mitten in der Neustadt von Brüssel. Und ich sah es auch nicht zuerst, ich spürte es in meinem Herzen. Das Böse, direkt vor mir. Hinter der Schaufensterscheibe eines teuren Schmuckgeschäftes. Ausgestopfte Leoparden, ein Walross und andere Tiere, behangen mit Diamanten, Gold, Edelsteinen. Die toten Augen stumm auf mich gerichtet. Und da wusste ich: es ist noch lange nicht vorbei. Die einen wollen allen Reichtum dieser Welt für sich, für eine vermeidliche Schönheit und Unsterblichkeit und einige von ihnen gehen über jede Grenze. Sie handeln menschen- und lebensverachtend, um alles für sich zu bekommen. Und wieder andere schauen weg und viele müssen dafür sterben. Das wurde mir klar in jenem Sommer, im 21. Jahrhundert, in Brüssel, der Stadt, in der die Europäische Union ihren Hauptsitz hat.
