Die Welt verreist. Es scheint ein sehr starkes Konzept zu sein, dass sich dort in der Menschheit verankert hat. Pünktlich und spätestens zu Beginn der Sommerferien müssen wir verreisen. Durch Schulferien ist ein Großteil der Bevölkerung ja sogar terminlich festgelegt, ganz gleich, ob man lieber zu einem anderen Zeitpunkt weg möchte oder nicht.
Reisen bedeutet: wir müssen planen, Geld zur Seite legen, die Haustiere gut unterbringen, einen Blumengießdienst organisieren und am Tag X sehr früh aufstehen, die Wohnung vor Einbruch sichern und uns auf den Weg machen.
Wohin? Da hat jeder andere Präferenzen. Nur ein Wunsch ist gleich: es soll in die Entspannung gehen, in die Individualität, in die Erinnerung, die diese Reise einmal sein soll, um uns jederzeit durch Abrufen dieser glücklich zu machen, uns zu nähren. Eine Grundlage für das weitere Funktionieren im zukünftigen Alltag zu schaffen. Recht komplex das Ganze.
Manchmal frage ich mich, warum das Bedürfnis zu Reisen so groß ist. Denn ich vermute, fast jeder von uns hat schon einmal erlebt, was so eine Reise an Enttäuschung und Stress mit sich bringen kann. Die Unterkunft ist nicht so wie im Katalog beschrieben, das Essen ist schlecht, die Mitreisenden eine Zumutung an unseren Freiheitsanspruch und, oder, an das ästhetische Empfinden.
Ich persönlich habe es nicht so mit dem Reisen. Ein- zweimal ist es gut gegangen aber manchmal halt auch nicht. Als ich Kind war, in den 80er-Jahren, bin ich vielleicht zweimal auf Reisen gegangen. Einmal ins Elsass und an den Nordsee-Strand. Als Teenager führte mich dann eine Reise nach Spanien. Ich erinnere aber nur die Momente in lauten Diskotheken, in Gesellschaft betrunkener, höchst amüsanter Briten. Oder an die verzweifelte Suche meiner Mutter nach einer Konditorei mit dem Sonntagskuchen, wie wir ihn von Zuhause kennen. Tatsächlich fand sich ein Café Schwarzwald auf der Insel. Die einzige Erinnerung, trotz großem Bemühen sie gänzlich zu vergessen, an meine erste und einzige Reise auf einen anderen Kontinent, waren qualvolle Stunden im Badezimmer, mit fürchterlichsten Bauchkrämpfen. Denn natürlich hatte ich dummerweise auf Bitten meines kleinen Sohnes doch eine Portion Pommes am Strand gekauft. Später hörte ich dann die Stimme meines Sohnes, die mich fragte: warum hast du mich nur hierher gebracht? Bitte bring mich zurück nach Hause. Warum hast du dich nicht an die Sicherheitsanweisungen des Hotelpersonals gehalten? Hätte er auch sagen können. Warum hast du die Konzentration verloren und dich gehen lassen? Im Urlaub auf einem fremden Kontinent, wo überall Gefahren lauern können?
Aber wahrscheinlich stehe ich dem Reisen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Das mag damit zu tun haben, dass eine meiner Lieblingsserien in meiner Kindheit „Signor Rossi“ war. Auch die Trickfilmfigur Herr Rossi hat sich auf Reisen begeben. In Begleitung seines Hundes Gaston und mit seinem kleinen Auto und einem winzig kleinen Wohnwagen. Herr Rossi hat das Glück gesucht, so lautete der komplette Titel des in Deutschland ausgestrahlten Formates. Ich erinnere mich, dass Herr Rossi mit seinem Hund einmal einen Ausflug zu einer Grotte gemacht hat. Er hat sehr viel Geld für eine geführte Bootstour bezahlt und wurde dann immer wieder durch die gleiche Grotte geschippert, die ihm immer wieder als neue Grotte verkauft wurde. Oder er durfte die Insel der singenden Fische bestaunen. Nur mit sehr viel Konzentration hat er den schrecklichen Lärm überstanden.
Es mag also meiner Kindheit geschuldet sein, dass ich dem Konzept des Verreisens staunend und fragend gegenüber stehe. Ist es denn zu Hause wirklich so schrecklich, dass man Glück und Entspannung nur woanders finden kann? Hat man einen Beruf gewählt, der so belastend ist, dass man nur davon träumt, eine Pause von ihm zu haben? Und kann man diese Pause nicht auch zu Hause gestalten? Im weichen eigenen Bett, die Lieblingsserie in allen verfügbaren Staffeln schauend, mit Knabber-Zeug oder Schokolade? Ausschlafen bis zwölf und den ganzen Tag im Schlafanzug verbringend? Sich vielleicht am Abend mit Freunden oder Nachbarn im Hof oder gemeinsamen Garten treffend? Ein Glas Wein trinkend, quatschend, auf der Straße tanzend?
Geht Erholung tatsächlich nur woanders? Natürlich verstehe ich Entdecker-Lust und Neugierde fremde Städte, Sehenswürdigkeiten, Kulturen und Menschen kennen zu lernen. Aber ist dies in den Sommerferien tatsächlich möglich? Als ich zum ersten Mal in das große Pariser Museum Louvre wollte, musste ich tatsächlich 4 Stunden anstehen. Im Louvre war es so voll, dass ich die Mona Lisa erst auf einem Poster im Museumsshop gesehen habe. Vor dem echten Bild standen so viele Menschen, dass ich nur eine wogende Welle Hinterkopfhaar sah. Enttäuscht ließ ich mich von der schiebenden Menge noch eine Zeit lang durch die Gänge leiten. Der Klangteppich verschiedenster Sprachen, hielt mich vom Innehalten und Fallenlassen ab. Als ich draußen zum Luftholen kam, war mein erster Gedanke: auch gesehen, auch erledigt, diesen Punkt von der Liste streichen.
So bin ich immer noch auf der Suche nach einer Antwort für mich. In der letzten Woche konnte ich mit einigen Kindern in einem meiner Literatur-Kurse ins Gespräch kommen. Ein elfjähriges Mädchen erzählte, dass sie mit ihrer Familie eigentlich nicht in die Ferien fahren wollte. Aber dann sah die Familie auf ihrem jeweiligen WhatsApp Status die Urlaubsbilder der befreundeten Familien und Klassenkameradinnen. Eine gewisse Nervosität macht sich bereit. Die Verunsicherung in der Familie wuchs, würde man sich um eine Erinnerung bringen? Müsste man nicht auch Fotos für den WhatsApp Status generieren?
Also entschloss man sich kurzfristig, doch noch zu verreisen. Nur kurz um die Ecke. Ich fragte das Mädchen, was das schönste Erlebnis dieser Reise sei. Sie dachte lange nach, und zuckte mit den Achseln. Ihr fiele dazu nichts ein. Schön wäre es gewesen, wieder ihre Freundinnen zu treffen. Zuhause.
Vielleicht komme ich meiner Antwort ein kleines Stück näher.
