Wenn kleine Kinder Verstecken spielen, dann legen sie oft ihre Hände flach über ihre Augen, so dass das gesamte Gesicht fast verborgen ist. Sie fühlen sich sicher und im Vorteil, denn sie nehmen an, wenn sie nichts sehen können, dann kann auch niemand sie sehen und finden.
Immer wieder stoße ich in der Presse auf den Aufruf, keine Kinderbilder in den sozialen Medien öffentlich zu machen. Da ich Menschen fotografiere, darunter auch Kinder, ist dies ein Thema, mit dem ich mich sehr ausführlich, verantwortungsbewusst und sensibel auseinandersetze.
Ich mag die wenigsten Darstellungen von Kindern im öffentlichen Bereich. Ich mag es nicht, wenn Kinderbilder mit Photoshop bearbeitet sind. Ich mag nicht, wenn Kinder etwas darstellen sollen, was ihnen fremd ist, was sie überfordert, was sie zu Objekten macht. Ich mag nicht die Instrumentalisierung von Kindern als Werbeträger. Und ich mag auch nicht die Instagram-Mütter, die allein durch ihr Muttersein, und mit Hilfe ihrer Kinder, ihre Timelines füllen, um lukrative Werbeverträge zu ergattern.
Und doch sage ich: Zeigt mehr Kinderbilder! Überflutet uns damit. Überall: Kinder auf Autos und Straßenbahnen, auf Zeitschriften und auf Keksverpackungen. Kinder im Morgenfernsehen und vor der Tagesschau. Lasst beim Anschalten des Mobiltelefons ein Kindergesicht aufleuchten, das uns anlächelt und uns sagt: Schaut mich an! Nimm mich wahr! Und lerne, mich zu verstehen. Schaue mich so oft an, bis du erkennst, ob es mir gut geht, oder ob ich traurig bin, ob ich nur gelangweilt bin, oder gequält. Auf jeden Fall aber: Schaue nicht weg!
Aber überall lese ich, dass ich keine Kinderbilder öffentlich machen soll, nichts von ihnen zeigen und Kinder am besten unter Verschluss halten soll. Ich soll sie nicht allein in den Park lassen oder sie zum Einkaufen schicken; sie besser zur Schule und zum Sport fahren. Und meiner Tochter soll ich sagen: Zieh etwas an, bei dem man deinen nackten Bauch nicht sieht. Und einen Rock, der deine Knie bedeckt. Und sprich mit niemandem! Am besten wäre es sowieso, die Kinder blieben drinnen, im Haus. Da machen sie auch keinen Lärm und keinen Ärger. Und vor allem: Dann gerät niemand in Versuchung.
Denn jedes Kind kann dort draußen – jenseits von Bullerbü – zu einem Opfer werden. Aber dafür muss es sich erst einmal zeigen. Oder von seinen Eltern gezeigt werden. Und zack, sind die Kinder in der Gewalt eines Pädophilen. Und dann sind ihre Fotos plötzlich überall im Darknet zu kaufen. Und wer ist dann schuld? Die Eltern, die ihre Kinder gezeigt haben. Oder die Kinder selbst, die Fotos von sich auf ihren WhatsApp Status stellen. Oder die – in ihrem naiven Vertrauen in den guten und fürsorgenden Erwachsenen – mit Menschen chatten, die so tun als wären sie Teenager, in Wirklichkeit aber Erwachsene sind. Denn so ein Kind glaubt ja noch an das Gute im Menschen. So ein Kind vertraut noch blind und schaut zu den Erwachsenen auf. Und vielleicht glaubt ein Kind auch, dass der große, starke Erwachsene es beschützt. Sie glauben an sie wie an die Märchen, die man ihnen erzählt. Aber die Realität ist ja kein Märchen und geht oftgenug nicht gut aus. Und doch sind die dunklen Geschichten, ist die aktuelle Berichterstallung, kaum zu glauben.
In Lüdge, im Teutoburger Wald, auf einem öffentlich zugänglichen Campingplatz, konnten, über Jahre hinweg, 34 Kinder missbraucht werden. Niemand hat diese Kinder gesehen. Niemand hat davon gewusst. Einige vielleicht schon, die haben auch was gesagt. Aber das wurde nicht gehört, oder in Akten geschrieben, die einfach verschwunden sind. Der mutmaßliche Mörder von Madeleine McCann konnte öffentlich Missbrauchsphantasien äußern, die auch nie jemand gehört hat, aber die jetzt doch zu lesen sind. Wie sind seine Aussagen verschwunden? Wer hat sie gehört und in seinem Kopf behalten und niemandem davon erzählt. Sind sie plötzlich einfach aus dem Nichts aufgetaucht? Und in Recklinghausen wurde ein Missbrauchs-Opfer in einem Kleiderschrank gefunden, wie in einem Zaubertrick. Es wurde dort nach 2 Jahren gefunden. Vorher wurde der Junge dort in Recklinghausen auch von niemandem gesehen oder gehört. All diese Kinder verschwinden und niemand sieht sie mehr. Ich frage mich: Sind Kinder, ihre Verletzungen, ihre Ängste, ihr stummes Flehen für das erwachsene Auge unsichtbar? Können Richter*innen, Polizisten*innen, Jugendamtsmitarbeiter*innen, Lehrer*innen, Nachbarn*innen, Verwandte sie nicht erkennen?
Vielleicht haben wir nie wirklich gelernt, Kinder anzuschauen, sie wahrzunehmen. Vielleicht sollten wir aufhören, sie als zu versorgende, zu betreuende, zu unterrichtende, zu fütternde, zu fahrende, einzukleidende, vorzuzeigende, auszustattende, zum Schweigen zu bringende Kinder zu sehen – und mal genau hinschauen. Kinder sind keine Dinge, die man sich anschafft und benutzt. Die etwas für einen erfüllen, mit denen man handeln kann oder über die man verfügen kann. Kinder sind Menschen, Möglichkeiten, die Zukunft, wir, Wunder der Natur und Geschöpfe Gottes.
Wir könnten uns einfach mit den Eltern und Großeltern freuen, die all ihr Glück und ihren Stolz mit Menschen teilen wollen. Wir könnten Kinderbilder betrachten als das, was sie sind: Momentaufnahmen einer kurzen Zeitspanne im Leben, die in ihrer Einmaligkeit nicht wiederholbar ist. Wir könnten vielleicht traurig werden über den Versuch, die Zeit anhalten zu wollen, über den verzweifelten Wunsch, die Unbefangenheit und Leichtigkeit für immer lebendig zu halten. Wir können unsere Kinder bewundern wie eine Fähigkeit, die wir erlernt haben, einen Berufsabschluss oder einen Schatz den wir geborgen haben – und um den uns alle Welt beneidet.
Aber wir könnten auch das gesamte Vermögen der Eppsteins dieser Welt einfach beschlagnahmen und in Präventionsprogramme stecken. Wir könnten Märchen schreiben, in denen wesentlich ältere Prinzen mit 17 jährigen Mädchen tanzen und es ihnen nicht eine Sekunde lang falsch vorkommt. Märchen, in denen der Traumprinz sagt: Lustig, du bist so alt wie meine Tochter, bevor er ihr den entscheidenen ungewollten Kuss gibt. Wir könnten das Strafmaß für schweren sexuellen Missbrauch von Kindern dem von vorsätzlichem Mord angleichen. Wir könnten Therapieplätze und Präventionsangebote für Pädophile einrichten. Und wir könnten den Handel mit Kinderpornografie ächten als eines der abscheulichsten Verbrechen, zu denen Menschen fähig sind. Wir könnten überlegen, ob es Strafen für unterlassene Hilfeleistung beim Missbrauch von Kindern geben kann. Und Kinder, die einen Missbrauch erlebt haben, nicht länger Opfer nennen, sondern Überlebende. Wir könnten sexuellen Missbrauch im Krieg als Kriegsverbrechen anerkennen. Wir können aber auch ganz klein anfangen – und die Kinderechte endlich ins Grundgesetz aufnehmen. Und wir könnten endlich, endlich den Begriff der Schuld aus dem Wörterbuch streichen und den Kindern die Scham nehmen und sie ansehen und unser Versagen aushalten, es nicht geschafft zu haben, Davor genau hingeschaut zu haben.