Es ist noch ein jeder gestorben

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„Es ist noch ein jeder gestorben“ das war eine Zeile aus einem Gedichtband oder sogar der Titel eines Gedichtes, das ich vor vielen Jahrzehnten gelesen habe. Das Buch wurde in der Zeitschrift Mädchen vorgestellt und ich war ein großer Fan und Bewunderer des noch jungen Autoren, zu dem ich Kontakt aufnahm. Auch ich wollte Schriftstellerin werden und wir begannen eine Brieffreundschaft, die im Austausch von Schreibtipps bestand. Irgendwann lud mich der Autor nach München ein, dort lebte er. Wirklich vorbereitet war er auf meinen Besuch nicht. Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere und so versorgte ich ihn ein Wochenende durch den Pizzaservice und durch mein karges Taschengeld und lernte auch diese Seite des Schrifstellerdaseins rechtzeitig kennen.
Der Kontakt brach nach diesem teuren Wochenende ab, die Zeile blieb in mir verhaftet. Aber warum? Einige Jahre zuvor starb mein Großvater. Er starb zu Hause in seinem Bett, das in seinem Schlafzimmer stand. In der Küche saßen wir zusammen mit meiner Oma, die seine Beerdigung unter Tränen plante. An der Küchentür hing ordentlich auf einem Bügel der Anzug, in dem er beerdigt werden würde. Er selbst kannte diesen Anzug. Er wusste, dass dies sein letzter Anzug sein würde. Mein Opa lag lange Zeit aufgebahrt in der Leichenhalle des Friedhofs und wir konnten ihn dort besuchen und uns von ihm verabschieden. Er sah wohl sehr gut aus in seinem Beerdigungsanzug. Meine Oma weinte und schien doch verliebt in ihn wie selten zuvor.
Sein Sterben war das erste und letzte Sterben, das ich so nah erlebte. Über den Tod einer sehr guten Freundin, erfuhr ich viele Jahre später durch die Post, die mich zu ihrer Beerdigung einlud. Sie selbst sprach niemals mit mir über den Umstand, an ihrer Krankheit sterben zu können. Eben jene Oma, die das Sterben und die Beerdigung meines Opas so sorgfältig vorbereitete und begleitete, starb in einem Krankenhausbett auf der Intensivstation, als niemand bei ihr war. An dem Tag vor ihrem Tod nahm sie meine Hand und flüsterte mir ins Ohr, was nun zu tun sein. Ich sollte nicht vergessen, den Kühlschrank auszuräumen und sie verriet mir ungefähr wo das Testament zu finden sei.
Kontrolle, nicht nur über das eigene Leben, sondern über den eigenen Tod. Wann ist sie den Menschen abhanden gekommen? Ich selbst habe zwei Menschen beerdigt und jeder, der dies ebenfalls getan hat weiß, dass es eine ganze Menge Arbeit ist und eine Herausforderung an den Körper und die Seele. Nach diesen Erfahrungen habe ich mit meinen Eltern gesprochen. Sie möchten sich bitte rechtzeitig kümmern, mir sagen, was sie sich wünschen. Mir mitteilen, ob sie beatmet werden wollen, reanimiert, ob sie ihre Organe spenden wollen oder nicht und wie ihre Beerdigung gestaltet werden soll. Sie könnten schon einmal über eine Playlist aller Beerdigungslieder nachdenken. Und ich würde mir wünschen, ich würde häufiger über dieses Thema lesen können. Erfahrungen anderer Menschen, Anzeigen für Särge oder Urnen. Ich würde gern einmal beim Abendessen mit Freunden über diese Themen sprechen können, ohne dass meine Freunde mich angucken, als würde ich planen mich einer Satanisten-Gruppe anschließen zu wollen.
Bei den zwei Beerdigungen musste ich mir all die Gedanken machen und dazu kam die Trauer und die Ohnmacht. Ganz langsam stoße ich beim Lesen von Zeitschriften und Magazinen auf das Thema Sterben. Ja, ich schreibe es noch einmal, so gewöhnt man sich vielleicht an das Wort und den Umstand, der damit verbunden ist. Aktuell ist durch Covid-19 eine Bedrohung greifbar, unsichtbar und recht unkalkulierbar, die uns unsere Endlichkeit ins Bewusstsein ruft. Viele Menschen denken nicht gern an ihre eigene Endlichkeit bis es sie plötzlich ganz persönlich betrifft. Das schreibe ich nicht einfach so. Ich habe Menschen gefragt und ich habe Pfarrer gefragt, die viel näher an dem Thema sind. Das Leben ist schön, das Leben ist ein Geschenk. Natürlich sollten wir es genießen und wir sollten es feiern und wir sollten Grundlagen dafür schaffen, dass alle Menschen auf der Welt die Möglichkeit haben ein würdevolles Leben zu führen. Aber eines Tages werden wir erkennen, dass es vorbei ist. Dass all das Ablenken, Wegschauen und das Klammern an materielle Besitztümer das Sterben nicht aufhalten kann. Warum sollte es sich denn auch ausschließen? Das Leben und das Sterben? In den Zeilen des Buchtitels, eben jenes Münchner Autoren, liegt eine strenge Endgültigkeit, aber auch eine Gewissheit und eine Aussicht auf eine Art von Erlösung. Manchmal setze ich seinem Titel meine eigenen Worte hinzu: Habe keine Sorge, es ist noch ein jeder gestorben.

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