Im April 1957 schrieb Sylvia Plath in einem Brief nach Hause: „Alles, was man tun muss, um seine Begabung durchzusetzen, ist dauerhaft und intensiv nachzudenken und im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten, ohne Unterlass.“ Dies schrieb Silvia Plath 1957 in einem Brief.
Diesem Text ist ein Bild beigefügt. Es ist ein Selbstportrait von mir. Was fällt Ihnen zuerst auf? Dass ich eine schlechte Fotografin bin, da ich versucht habe, Unschärfe durch künstlerisches Geschick zu tarnen? Dass Rosa eine schwer auszuhaltende Farbe ist? Finde ich dieses Bild wohl bei Tinder wieder? Ist das die englische Ausgabe von Johnny Panic? Oder stellen sie einfach nur fest, dass sie Sylvia Plath schon lange nicht mehr gelesen haben.
Mit dem ersten Eindruck ist es so eine Sache. Mit dem ersten Lesen eines Textes auch. Heute auf einer Zugfahrt las ich Zeit-Online. Zuerst kanalisierte sich meine Aufmerksamkeit auf einen Artikel über den Weinstein-Prozess, der aktuell in New York stattfindet. Die Überschrift des Artikels lautet: „Ich habe mich geschämt“.
Dies lies mich zwei Fragen stellen. Wer hatte sich geschämt und wofür? Unter der Überschrift das Foto einer Frau. Langes, dunkles Haar zur Seite gelegt, ein heller Blazer. Hatte sie geweint? Lächelt sie? Vielleicht? Aber lächelt man, wenn man sich schämt und wofür zur Hölle schämt sie sich denn eigentlich? Ich weiß, dass es bei dem Weinstein-Prozess um angebliche sexuelle Belästigung, um angebliche Vergewaltigung geht. Juristisch muss man sich so ausdrücken, bis ein Urteil gefällt ist.
In dem Artikel geht es um die Anhörung von Miriam Haley. Sie berichtet über die zwei Zusammenkünfte mit Harvey Weinstein, bei denen er sexualisierte Gewalt gegen sie ausgeübt haben soll.
Es geht um jedes kleine Details. Die erste Begegnung, die Einladung auf sein Hotelzimmer, um E-Mails und Telefonate. Es scheint dünnes Eis zu sein. Es geht um Glaubwürdigkeit und um Einvernehmlichkeit. Hat sie wirklich Nein gesagt? Wusste sie denn nicht, worauf sie sich da einlässt? Wenn er sie doch schon beim ersten Treffen vergewaltigt hatte, warum ging sie dann noch einmal zu ihm? Und dann verstehe ich immer noch nicht das mit der Scham. Mit dieser total schrecklichen Scham. Ich zitiere…. Aus Verzweiflung habe sie Weinstein gesagt, dass sie ihre Periode habe, um ihn zum Aufhören zu bringen. Daraufhin soll er ihr Tampon „herausgerissen“ und weitergemacht haben. „Ich habe mich geschämt“, sagte Haley, „ich wurde vergewaltigt.“ Letztendlich habe sie Weinsteins Tun über sich ergehen lassen.
Wofür hat sie sich geschämt? Dafür, dass sie ihn nicht sofort angezeigt hat? Dafür, dass sie es hat über sich ergehen lassen? Dafür, dass sie ihre Periode hatte? Er sie vergewaltigt hat? Schämt sie sich für seine Gewalt? Warum kann nicht auch hier das Geschehen so ganz und gar ins Detail gehen, um es endlich begreiflich zu machen. Aber es ist ja auch so weit weg. In Hollywood, da kommen wir nie hin und das verstehen wir auch gar nicht. Eine junge Frau, die es doch hätte wissen müssen, kam sie doch aus der Branche und dann passiert ihr sowas. „Damit muss man da doch rechnen!“, möchte der ein oder andere ihr zurufen. Ich gehöre definitiv nicht dazu.
Ich erinnere mich daran, dass ich vor ungefähr gleich vielen Jahren in eine ähnliche, aber sehr sehr viel harmlosere Situation gekommen bin. Ich war damals Literaturwissenschaftsstudentin. Mein großer Traum war es, neben einem großen Roman, für Film- und Fernsehen zu schreiben. Nun lernte ich damals in einer Diskothek einen unheimlich süßen Jungen kennen. Dem erzählte ich, dass ich unglaublich gerne einmal einen Stunt in einem Stunt-Auto fahren würde. Er sagte mir, dass ich großes Glück habe, denn ein Freund von ihm arbeitet bei einer Filmproduktionsfirma, die genau auf solche Fernsehserien spezialisiert ist. Er vermittelte einen Kontakt.
Es folgten ein paar Telefonate mit seinem Freund. Ich erzählte ihm was ich beruflich mache, wie lange ich schon schreibe und was mich an der Arbeit interessiert. Er erzählte mir, dass es eine Möglichkeit gebe in ein Autoren-Team einzusteigen. Für eine Fernsehserie zu schreiben, die neu entwickelt wird. Er erzählte ein wenig über die Konditionen und die Arbeitsweise. Dann lud er mich zu einem persönlichen Gespräch ein. Ach ja, er fragte noch, was mein Lieblingskuchen sei. Ich fand das sehr höflich und beantwortete ihm diese Frage wahrheitsgetreu. Wenig später fuhr ich mit dem Zug nach Köln. Ich war total aufgeregt. Ich hatte so viele Ideen und habe viele Stunden damit zugebracht alle Produktionen der Film-Firma anzuschauen. Eigentlich entsprachen die produzierten Formate nicht meinen persönlichen Interesse, aber ich wollte informiert und bestens vorbereitet in dieses Gespräch gehen.
Er holte mich am Bahnhof ab und wir fuhren zu ihm nach Hause. Auf dem Tisch stand eine Schwarzwälder Kirschtorte aus der Tiefkühltruhe. Im Verlauf des Gespräches machte er mir sehr schnell klar, dass er an mehr interessiert sei, als nur an meinen bahnbrechenden movie plots. Ich sagte ziemlich klar Nein dazu. Er war kurz geknickt, gabelte ein großes Stück Torte auf und fand überraschend schnell zu einer professionellen Haltung zurück. Im Laufe der Tages hat er sich wirklich sehr vorbildlich verhalten. Er hat mich weder bedrängt, noch hat er versucht mich zu überreden.
Gegen Abend drückte er mir einen großen Karton in die Hände, voll mit Video-Tapes unveröffentlichten Bildmaterials, mit Serien-Plänen, Exposés und Drehbüchern. Alles, was bisher für dieses Format erarbeitet oder was aktuell gedreht wurde. Dann lud er mich noch auf ein Glas Kölsch ein. In Nähe des Bahnhofs setzten wir uns auf die Terrasse und unterhielten uns. Er lächelte, nahm die Sonnenbrille ab und sah mir tief in die Augen. „Nächsten Samstag gibt es eine große Party der Filmcrew. Da sind alle wichtigen Leute, Produzenten, Regisseure. Ich kann dich gerne als meine Begleitung mitnehmen. Du musst allerdings ganz genau wissen, auf was du dich da einlässt. Beziehungen sind da sehr wichtig. Und du könntest da wirklich gut ankommen.“
Mit dem Päckchen Arbeitsmaterial auf dem Schoss fuhr ich nach Hause. Ich war sehr müde und irgendwie traurig. Ohne dass ich damals genau sagen konnte, was mich so traurig gemacht hatte. Ich glaube, es war die Ernsthaftigkeit mit der ich mich auf dieses Treffen vorbereitet hatte. Niemals im Leben wäre ich auf die Idee gekommen zu versuchen, mein Gegenüber mit irgendetwas anderem zu beeindrucken als mit meiner Arbeitsleistung und meinen Willen auf geschäftlicher Basis mein Bestes zu geben. Ich war so blöd und hatte mir sogar ein Outfit besorgt, in dem ich besonders geschäftsmäßig und seriös aussah.
Zu Hause angekommen investierte ich mehrere Wochen Zeit, mich in das Material einzuarbeiten. Ich schaute mir unzählige Action-Filme an, die ich in der Videothek ausleihen und mit dem Rad nach Hause fahren musste. Morgens, nachdem ich meinen Sohn in den Kindergarten gebracht hatte, übte ich Stunts in denen ich so tat, als wäre mein Fahrrad ein Motorrad. Nach dem Studium und der Arbeit saß ich am Küchentisch und verfasste mehrere Exposés und ich traf mich mit meinen Mitstudenten. Wir bildeten ein kleines Autorenteam und trafen uns regelmäßig, um an den Ideen und Texten zu arbeiten. Zu unserem Team gehörten eine weitere Frau und zwei Männer. Der Kontakt zur Produktions-Firma bestand nur noch telefonisch und war dann mehr als sehr knapp. Von der Diskobekanntschaft erfuhr ich von Telefonaten, in denen es um mich ging und dass er immer noch die Möglichkeit hätte, mir zu helfen. Wenn ich denn nur wirklich wolle und echtes Interesse zeigen würde. So atemberaubend sei ich ja nun auch wieder nicht. Ich ließ mich nicht beeindrucken, bereitete Briefumschläge vor und schickte die Texte auch per Fax an die Nummer meines „persönlichen“ Ansprechpartners in Köln. Ich wollte diese Zusammenarbeit wirklich sehr. Aber ich wollte mich dafür nicht verkaufen. Ich wollte nicht auf die Partys und ich wollte niemandem gefallen und nicht gefällig sein. Aber das ungute Gefühl in mir wuchs. Ich bat einen Studienfreund um Hilfe. Er übernahm als Teamautor die Korrespondenz und bot unsere Exposés an. Er wurde nicht auf besagte Party eingeladen. Mit ihm schrieb und telefonierte man lediglich.
Zwischen diesen Ereignissen und heute liegen viele, viele Jahre. Ich hatte die Geschichte schon fast vergessen. Es ist ja nichts wirklich Schlimmes passiert. Zum Glück wurde mir keine physische Gewalt angetan. Ich hatte einen Traum und wollte dafür arbeiten, ihn zu realisieren. Ich war fleißig, ich hatte sehr, sehr gute Ideen. Mir bot sich eine Chance und ich wollte sie mir nicht erschwindeln, sondern ich wollte mir sie verdienen. Darum wurde ich gebracht. Wie unzählige junge Frauen in Hollywood und überall auf der Welt. Frauen, die an sich und ihre Träume glauben und in guter Absicht handeln und in ihrem Gegenüber auch gute Absichten vermuten.
Das ist naiv? Vielleicht. Aber das ist kein Grund sich zu schämen. Weder für den Glauben an eine Begegnung auf Augenhöhe. Noch für die Annahme, das Gegenüber würde mit gleicher Ernsthaftigkeit handeln. Keine Scham für den Schock, keinen Scham für Enttäuschung, keine Scham für die Ohnmacht. Wenn ein Kind etwas falsch macht, dann sagen wir: schäme dich oder schämst du dich gar nicht? Aber wofür sollen sich die Weinstein-Frauen denn schämen? Wofür sollen sich denn all die Frauen schämen, die an sich und ihre Fähigkeiten glauben und annehmen, ihr Gegenüber würde dies ebenso tun. Und es können auch Männer und Männer da aufeinander treffen. Oder Frauen und Frauen.
Scham ist ein Gefühl das entsteht wenn man Ausgrenzung oder Herabwürdigung erfährt. Scham kann ich fühlen. Es ist ein Affekt. Es kann nur ausgelöst werden durch einen Verursacher. Zum Beispiel durch einen Menschen, der seine Macht ausübt, um seine ganz eigenen, persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Oder der sich seinen Vorteil verschaffen will. Der andere Menschen als Objekte betrachtet, die für ihn funktionieren müssen. Der Körper und Träume und Hoffnungen zerstört. Der lügt und täuscht und sich für niemanden außer für sich selbst interessiert. Dieser Mensch kann das schreckliche Gefühl der Scham auslösen. Liebe Miriam Haley, fühle doch einfach mal Wut. Fühle den Verrat. Soldaten, die in einen Hinterhalt gelockt wurden, den Angriff aber überlebt haben, sagen oft: Ich fühlte mich verraten und verkauft.
Artikel „Ich habe mich geschämt“ / Quelle: www.zeit.de / 28.01.2020 / Autorin: Marietta Steinhart
Ich hab jetzt nichts Neues durch deinen Text erfahren oder dazu gelernt. Aber du hast es geschafft, mich eine Zeitlang hinzuhalten, weil ich immer dachte, da kommt nach was ganz Originelles am Ende. Aber leider nur Floskeln und Binsenwahrheiten als Resümee. Mir tut es nicht um meine Zeit leid, aber mir tut es um deine Zeit leid. Du könntest Besseres damit anfangen, was dich weiter bringt .. Ich wünsch dir aber trotzdem alles Gute, Glück und Gesundheit. Möge dein Leben Wohlgestalt erhalten ..
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