Wir sehen wie gut du bist

Ich bin ein recht freizügiger Mensch. Schon sehr früh in meinem Leben habe ich mich dazu entschlossen keine Geheimnisse zu haben. Geheimnisse zu haben schien mir immer sehr aufwendig. Was nicht bedeutet, dass ich Geheimnisse nicht gut bewahren kann. Auch bin ich ein Mensch, der keine Probleme damit hat, Privates in sozialen Medien zu teilen oder offiziell zu einem Thema Position zu beziehen.

Ganz im Gegenteil wünsche ich mir, dass mehr Menschen den Mut haben aufzustehen und für ihre Meinung einzustehen oder gegen das aufzubegehren, was sie wütend macht. Einige Menschen tun dies. Manchmal vertreten diese Menschen eine Meinung, die so komplett meinen humanitären oder menschlichen Vorstellungen von dem, wofür es wichtig wäre zu protestieren, widerspricht. Aber halte ich es mit George Orwells Zitat „Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen“, muss ich dies wohl aushalten.

Eines der Bücher von dem ich sagen kann, dass es mich am meisten geprägt hat, ist vermutlich 1984 von George Orwell. Ich hab es um das Jahr 1986 als Teenager gelesen, auch um herauszufinden, ob die Zukunftsvision des Autors mit der Gegenwart übereinstimmt. George Orwell hat das Buch in den Jahren 1946 – 1948 geschrieben, also kurz nach den schrecklichen Geschehnissen des zweiten Weltkrieges.

1984 beschreibt vieles, was heute Realität geworden ist. Im Fokus das System eines totalitären Überwachungsstaates. Winston Smith, der Protagonist des Romans, könnte auch heute in unserem Staat leben. Bemüht trotz allgegenwärtigen Überwachung seine Privatsphäre zu wahren, auf der Suche nach einer unverfälschten, unzensierten Vergangenheit und auf der Flucht vor der Gehirnwäsche, die ihm das System androht, um aus ihm den ideal Bürger zu machen, könnte er mein Nachbar sein oder gar ich selbst.

Datenschutzbestimmungen, Bestrebungen einen Polizeistaat zu errichten, eine Fülle von Fake-News, all das findet sich heute wieder. Vielleicht würde sich Orwell im Jahr 2018 darüber wundern, dass wir selbst es sind, die mit unserer Privatsphäre recht großzügig umgehen. Dass wir Paybackpunkte sammeln, an Internetumfragen teilnehmen, unsere Daten verknüpfen und unsere Digital-Spur durch Cookies offenlegen und verfolgen lassen. Als freiwillige Entscheidung mit Zustimmung per Mausklick.

Trotz meines Wissen um all diese Dinge, bin ich überzeigt, dass ich die Kontrolle über diese Vorgänge habe. Ich bin in der Lage zu entscheiden, welche Fotos ich von mir poste, welches Statement ich der Öffentlichkeit zugänglich mache. Ich fühle mich überlegen, so als hätte ich alles im Blick und ich wundere mich über die Menschen, die in ihren Häusern freiwillig Überwachungskameras installieren. In ihren privaten Häusern und das nicht außen, zum Schutz vor Eindringlingen, sondern in ihren geschützten vier Wänden. In kurzen Werbe-Videos wird sehr ansprechend und unterhaltsam gezeigt wie diese Kameras funktionieren. Meist in witzigen Bildern, auf denen Haustiere zu sehen sind, die irgendeinen Blödsinn anstellen. Das ist harmlos und es kann auch gut sein, solch eine Kamera im Kinderzimmer zu installieren, um sicherzugehen, dass dem Kind, dem Baby kein Unheil zustößt.

Ich habe die Wahl mich gegen solch ein System zu entscheiden. Mir macht die Vorstellung Angst wie leicht wir uns daran gewöhnen könnten, ständig von Kameras überwacht zu werden. Ich erinnere mich wie befremdlich die erste Ausstrahlung der Sendung Big Brother auf RTL war. Neben aller Sensationsgier schwang noch eine unbestimmt politische Erinnerung mit. Big Brother machte aus dem Fernsehzuschauer selbst einen solchen Beobachter, einen Big Brother, wie er in dem Buch Orwells  beschrieben wird. In dem Roman ist er unsichtbar, namenlos und ohne Gesicht. Der Protagonist will sich seinem Blick entziehen. Das System will dies nicht und beginnt Winston Smith grausam zu foltern. Dies geschieht in einem Raum mit der Bezeichnung 101. Sein Folterknecht hat einen Namen. Er heißt O´Brien und in meiner Vorstellungskraft kann er auch ein Gesicht bekommen. O’Brien foltert den Helden, um ihn von seinen partei- und systemfeindlichen Gedanken zu befreien. Er will ihn nicht töten. Er will ihn umprogrammieren. Dazu bedient er sich Winston Smith großer Angst vor Ratten und setzt diese als Foltermittel ein. Ich fühle mich noch sicher. Denn ich denke, das passiert mir ja nicht. Auf meinen Schultern sitzt eine große Katze, die diese Ratten bekämpft.

Aber stimmt das so? Auch mein Gehirn ist einer Gehirnwäsche unterzogen. Nur hat mein Folterknecht kein Gesicht, da er gar kein menschliches Wesen ist. Er lauert im digitalen Raum der wie im Buch aus den gleichen Zahlen besteht. Ist ein Algorithmus, ein Computerprogramm, ein Binär-Code, geschrieben aus der 0 und der 1. Und er kann auch gar kein Mensch sein, denn er ist so unglaublich schnell. Gebe ich in eine Suchmaschine eine Anfrage nach einem Artikel ein, den ich kaufen möchte, zum Beispiel nach einer Hose oder einem Campingtisch, erscheint in meiner Timeline der Sozialen Medien kurze Zeit später eine entsprechende Werbeanzeige. Das kann ich nachvollziehen, ich suche nach einem Bild und ein Bild wird mir gezeigt. Damit kann ich mich abfinden. Es ist für mich nicht so schlimm, geht es nur ums Kaufen und ich freue mich manchmal sogar, schnell das Gesuchte gefunden zu haben.

Seit einiger Zeit allerdings poste ich in sozialen Medien gesellschaftskritisch Artikel oder kommentiere die Posts anderen Nutzer. Ich veröffentliche Statements, die mir helfen, die gefühlte Ohnmacht und Wut einigermaßen handhaben zu können. Es sind Worte, die ich dazu nutze. Und gestern nun erschien nach zwei, drei Statements von mir, die Werbeanzeigen einer humanitären Hilfsorganisation.

Ich musste feststellen, dass der digitale Big Brother wohl auch Worte lesen kann, denn auch die verwandeln sich in der digitalen Welt nach der Eingabe in Einsen und Nullen. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in mir aus. Und eine Frage, die einfach nicht aufhören wollte durch meinen Kopf zu schwirren. Bekommen die Menschen, die eine menschenverachtende, rechtsradikale, antisoziale Gesinnung in Sozialen Medien vertreten auch, ihrem Ideal entsprechende Vorschläge unterbreitet? Und ist es nicht eine fürchterliche Vorstellung, dass dieses imaginäre Wesen, dieser digitale Big Brother keinen Unterschied zwischen Gut und Böse macht? Dass er beide Seiten gleichsam bedient? Kann ein Binär-Code ein ethisches Wesen sein? Eine Moral haben? Ist dies eine ziellose Manipulation? Oder welchem Ziel dient die Manipulation? Dem Ziel, mich beschäftigt zu halten? Weiter zu konsumieren, egal was, Hauptsache konsumieren. Und will diese Manipulation dann nicht einfach meine Gesinnung verändern, sondern nicht viel eher meine Fähigkeit selbstständig zu denken gänzlich ausschalten?

Ich komme nicht drum herum. Ich muss mir eingestehen, die Realität ist immer 1000 mal schlimmer als die Fiktion.

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