Mittwoch war so ein Tag. Erschöpft und nicht fähig, einen weiteren klaren Gedanken zu fassen, lag ich im kühlen Schlafzimmer und klickte mich durch die aktuelle Playlist von YouTube. Für einen ganzen Film reichte meine Konzentration nicht mehr aus.
Nach einiger Zeit landete ich bei der südafrikanischen Alternative-Hip-Hop Band „Die Antwoord“. Und nach einigen beeindruckenden Musik-Clips bei dem Kurzfilm: Tommy can’t sleep. Ein Regieprojekt der Frontfrau der Band Yolandi Visser. Die ersten Schwarzweiß-Bilder flimmerten über den Laptop-Bildschirm. Bereits nach wenigen Sequenzen ahnte ich, dass mich etwas recht gruseliges erwarten würde. Erste Einstellung: ein Junge, ungefähr im Alter meiner Kinder, der im Bett liegt und nicht einschlafen kann. Über diesen Umstand äußert er sich in recht derber Wortwahl. Er geht in das Schlafzimmer seiner Eltern und teilt seiner Mutter mit, er könne nicht schlafen. Die Mutter setzt sich in ihrem im Bett auf, zieht die Schlafbrille von ihrem Gesicht und schreit das Kind an, sie brauchen ihren Schlaf. Die Mutter wird immer hysterischer und mir wurde immer mulmiger zumute, erkannte ich mich in dieser Szene wieder. In dem Video-Clip geht der Junge zurück in sein Zimmer, legt sich in sein Bett und ist nicht lange allein. Eine Ratte in Menschengestalt sitzt auf der Bettkante und lädt den Jungen ein, mit ihr durch das Loch in der Fußleiste in die Welt der Ratten zu reisen. Tommy landet alsbald in einem nächtlichen Moloch, den ich gar nicht mehr länger beschreiben mag.
Immer noch bin ich tief betroffen von der Szene mit der Mutter, hätte sie in meinem Schlafzimmer gedreht werden können. Auch ich schaffe es manchmal einfach nicht mehr die Kraft aufzubringen, um kurz vor Mitternacht, den Bedürfnissen, den Ängsten, den Erwartungen meiner Kinder gerecht zu werden. Ich möchte einfach nur noch schlafen, um meine Kraftreserven aufzutanken. Um für einen kurzen Augenblick mich selbst zu spüren. Ich denke, ich habe doch genug für euch getan. Bin mit euch im Morgengrauen aufgestanden, habe Frühstück gemacht, Schulsachen zusammen gesucht, gebacken, gekocht, Geburtstage geplant, euch von A nach B gefahren, zum Sport, zum Kunstkurs, zu Freunden, Hausaufgaben gemacht, Sorgen angehört, habe mich anschreien lassen, weil mich Dinge nichts angehen, weil ich euch die Nintendo-Switch weggenommen habe, euch an die nächste Klassenarbeit erinnerte. Ich habe mich gesorgt, während ihr auf Klassenfahrt wart. Ich habe mich gesorgt, ob es die richtige Entscheidung ist, euch gegen die Risiken von Zeckenbissen impfen zu lassen. Irgendwann muss es doch einmal gut sein. Für mich sind das die 5 Minuten in meinem Bett, oder auf dem Balkon, und im schlimmsten Fall, die im Bad. Die Ruhe für ein Video. Das am Mittwochabend hat mich allerdings so erschreckt und aufgewühlt, dass ich auf die Seite des Nachrichtenmagazins heute.de im Internet umgeschaltet habe.
Ich scrollte durch die Nachrichten und stieß auf die Meldung: „Bundeskanzlerin Angela Merkel will den Abschiebestopp nach Afghanistan komplett aufheben“. Flüchtlinge können somit künftig wieder nach Afghanistan abgeschoben werden. In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Die Erinnerung an Ava drängte sich unaufhaltsam in mein Bewusstsein.
Vor zwei Jahren lernte ich das Mädchen Ava in einem Flüchtlingsprojekt kennen. Sie gehörte zu einer Gruppe junger Menschen, die in Deutschland keinen Schulplatz bekommen haben und im Rahmen eines gemeinnützigen Projektes die Möglichkeit hatten, eine Ferienschule zu besuchen. Als ich Ava kennen lernte war sie zwölf Jahre alt. Ihre Familie, ihr Vater, ihre Mutter, zwei Geschwister, jünger als sie, waren aus Afghanistan geflohen. Nicht mit einem Flugzeug ausgeflogen. Sie waren über Land geflohen und mit einem Schiff. Ava wurde jeden Tag von ihrem Vater zur Schule gebracht und abgeholt. Ein dünner, noch sehr junger Mann, mit schlechten Zähnen. Am zweiten Tag kam er zu mir, ob ich wüsste, wo seine Frau Deutsch lernen könne. Ich erkundigte mich und kam die Zeit über mit ihm ins Gespräch. Die Familie lebte getrennt, in zwei verschiedenen Unterkünften, weil sich die Eltern immer wieder stritten.
Ava war eine sehr fleißige, wissbegierige und aufgeweckte Schülerin. Jeden Tag war sie pünktlich, sie war freundlich, sie war höflich und immer fröhlich. Sie lachte die ganze Zeit über. Irgendwann fragte ich sie, warum sie immer so gute Laune habe. Lächelnd sah sie mich an und sagte, zur Schule zu gehen das war immer ihr großer Traum. Sie wartete auf nichts sehnlicher als darauf, endlich einen Schulplatz zu bekommen. Schon in Afghanistan träumte sie mit ihren Freundinnen davon, zu lernen. Sie malten sich aus, wie es wäre, Bücher in den Händen zu halten, das Papier rascheln zu hören und zu spüren, wie sich ihr Kopf mit Wissen füllte. Ihre Freundinnen musste sie in Afghanistan zurücklassen. Sie waren so alt wie sie, doch ihre Träume fanden keine Erfüllung. Sie besuchten nie eine Schule. Sie waren bereits verheiratet. Vielleicht schon selbst Mütter. Ava sagte: „Zur Schule zu gehen und zu spielen, das ist viel besser als verheiratet zu sein“.
Die Heirat, das bestimmen nicht ihre Eltern, sondern der Dorfvorsteher. Der älteste Mann im Dorf. So heirateten auch ihr Vater und ihre Mutter, beide durften keinen Einspruch dagegen erheben. Ava sagte, sie geben sich Mühe miteinander, aber sie streiten sich die ganze Zeit, denn sie haben sich nicht lieb. Avas Eltern wollten nicht, dass ihre Töchter das gleiche Schicksal, das gleiche Leben erwartet. So entschlossen sie sich, aus Afghanistan zu fliehen. Koste es, was es wolle. Ava und Ihre Familie waren nicht vom Krieg bedroht. Ihre Stadt wurde nicht zerbombt. Sie wurde nicht politisch verfolgt. Und doch sind sie Flüchtlinge, die in einer Flüchtlingsunterkunft leben. Betrifft der Abschiebestopp auch sie? Muss Ava zurück in ihrer Heimat, um vielleicht doch noch zu heiraten? Sie dürfte jetzt 14 Jahre alt sein.
Die Gefühle in mir fuhren Karussell. Da lag ich, bedürftig nach ein bisschen Erholung von alldem, was ich jeden Tag für meine Kinder tat. Fanden Avas Eltern auch Erholung? Nach all dem, was sie für ihre Töchter getan haben? Fanden sie in ständiger Angst vor plötzlicher Abschiebung überhaupt dazu? Ich fühlte mich beschämt. Ich fühlte mich wütend, über die Menschen, die über das Schicksal anderer Menschen bestimmen. Die entscheiden, was werte Gründe sind, die Heimat zu verlassen, sich auf eine lebensgefährliche Reise zu begeben, um in einem anderen Land Schutz zu finden.
Und zugleich war ich unendlich glücklich. Glücklich, dass es meine Kinder nicht treffen wird. Das ich und meine Kinder einfach Glück gehabt haben, nicht in Afghanistan geboren worden zu sein. Weder ich, noch meine Kinder, noch Avas Eltern, noch Ava selbst, können das Schicksal bestimmen.
Von ganzem Herzen wünsche ich Ava und Ihrer Familie Menschen, die ihre Geschichte verstehen werden. Die verstehen werden, dass die Zwangsverheiratung eines Kindes, ein ebenso gewaltsamer Akt ist, wie eine direkte Kriegshandlung gegen das Leben. Und ich wünsche ihr und ihren Schwestern das gleiche Schutzrecht. Mir wünsche ich mehr Fähigkeit zur Demut. Dass die Demut mir Kraft gibt, den recht sorglosen und komfortablen Alltag als großes Geschenk zu betrachten.