Liebe Julia …

Liebe Julia,

heute schreibe ich dir einen Brief. Am 13. Mai feiern wir Muttertag. Der Feiertag ist mittlerweile sehr umstritten, da er zu einer großen kommerziellen Veranstaltung geworden ist. Viele Menschen verdienen sehr gut daran. Allen voran die Floristen und vielleicht auch die Zuckerwarenhersteller. Zudem haben die Nationalsozialisten, ein menschenverachtendes und verabscheuungswürdiges System, das während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland an der Macht war, den Muttertag an sich gerissen, für ihre Zwecke instrumentalisiert und mit ätzender grüner Galle vergiftet.

Ich weiß, dass ist alles neu für dich und du konntest nicht ahnen, was alles noch passieren würde, als die ersten Überlegungen zu einem Muttertag in dein Bewusstsein traten. Selbst Anna Marie Jarvis konnte 1902 diese Entwicklung nicht absehen. Aus ihrem, persönlich motivierten und christlichen Wunsch, wurde die Basis zur Feier eines weltweiten Muttertages begründet. Der Brauch weiße Nelken zum Muttertag zu verschenken kam von ihr. Noch heute findet man Fotografien auf denen zu sehen ist, dass Menschen Blumen, vorzugsweise Nelken in den Lauf einer Waffe stecken. In Portugal gab es sogar eine Nelkenrevolution, die 1974 zu ersten demokratischen Wahlen in Portugal führte. Vielleicht ist das aber auch nur ein purer Zufall. Leider kannst du mir nicht schreiben, was du davon hältst. Du bist seit 107Jahren tot. Als du 1870 über den Muttertag nachdachtest, da erholte sich dein Land, die USA, gerade vom Sezessionskrieg, der rund 750.000 Menschen den Tod brachte. Vielleicht hast du all die Söhne vor Augen gehabt und auch die Töchter, die Mütter, die unter Schmerzen ihre Kinder geboren hatten und die sie liebevoll fütterten, hüteten und zu selbstständigen, eigenständigen, würdevollen Individuen erzogen hatten. Warum sollten damals Mütter ihre Kinder weniger geliebt haben als heute? Und vielleicht wolltest du einfach nicht, dass diese jungen Menschen in einen Krieg geschickt werden, den sie nicht wollten und der ihnen keine echte Wahl lies. Vielleicht hast du auch nur an all die Mütter gedacht, die sich in Sorgen grämten und jeden Tag auf eine Nachricht von der Front warteten, die sie vielleicht gar nicht hören wollten.

Vielleicht hast du verstanden, dass Krieg nicht nur Tod des Einzelnen bedeuten kann, sondern Verzweiflung, Angst, Traumata über mehrere Generationen hinweg. Dass Menschen nicht allein durch Waffengewalt sterben, sondern durch Hunger, Verzweiflung, Vergewaltigung, Resignation. Dass der Krieg zwar viele Profiteure hat, darunter ist selten aber der Mensch, der sich in ihn begibt und für ihn stirbt.

Und dann erzähle ich dir heute etwas über Pralinen und Blumen, die Mütter am 13. Mai geschenkt bekommen. Ich selbst habe drei Kinder und feiere in diesem Jahr zum 25. Mal einen Muttertag. Meine Kinder schenken mir meist selbst gebastelte Gutscheine, die entweder sofort und alle auf einmal oder nie eingelöst werden. Sie malen Bilder oder pflücken im Stadtpark Blumen für mich. Sie geben mir ein Stück der Liebe zurück, für die ich mich entschieden habe, sie Ihnen ein Leben lang zu schenken.

Jetzt wunderst du dich vielleicht. Bist vielleicht erfreut über die Entwicklung. Das heute doch alles so schön und gut ist. Nun ich will ehrlich sein und dir anvertrauen, was mich bewegt, dir heute diesen Brief zu schreiben. Ist ja irgendwie auch lächerlich, einer Toten einen Brief zu schreiben.

Liebe Julia, manchmal fällt es einfach leichter einen Brief zu schreiben. Wir kennen uns nicht persönlich. Dadurch fühle ich mich ein Stück weit geschützt. Wenn man seine Worte sammelt und zurechtgelegt hat, um sie in der Öffentlichkeit preiszugeben, dann macht man sich schrecklich verletzlich. Man macht sich angreifbar. Lachen die anderen mich aus? Halten Sie mich für überspannt? Für eine Närrin? Was denken die anderen über mich?  Vielleicht hat man auch einfach Angst, etwas aufzugeben. Seine eigene Komfortzone zu verlassen. Wenn ich mich beschwere oder klage, sagen die anderen vielleicht, dann ändere doch etwas oder bist du zu faul dazu? Nein, nicht faul, nur manchmal fühle ich mich einfach so unendlich müde. Vielleicht habe ich auch nur Angst davor, den Verstand zu verlieren oder so traurig zu werden, dass ich wie eingefroren dastehe und mich der Welt gegenüber ausgeliert oder ohnmächtig fühle.

Und dann denke ich manchmal, lieber schweigen und sich um die kümmern, die man gut erreichen kann. Wo man sehen kann, dass die Sorge lohnt und Dinge besser werden. Man wird vielleicht eine bessere Mutter oder eine bessere Tochter, engagiert sich lokal. Aber was kann ein einzelner Mensch, eine einzelne Frau schon gegen die Regierungen in der Welt ausrichten? Vielleicht gefällt es meinen Arbeitskollegen, der Familie oder den Eltern meiner Kinder nicht, dass ich politisch werde oder sie finden es überheblich. Aber was ist, wenn in einigen Jahren meine Kinder vor mir stehen und mich fragen: Warum hast du damals, im Jahr 2018 nichts gemacht? Warum bist du nicht aufgestanden? Warum bist du leise geblieben?

So wähle ich heute einen anderen Weg, für den Anfang, und vertraue dir meine Ängste und Sorgen an. In letzter Zeit musste ich viel an dich denken. Ich fühle mich dir verbunden. Kannst du das verstehen? Hier bei uns in Deutschland herrscht momentan kein Krieg. Wir waren in zwei schreckliche Kriege involviert. Diese Kriege haben viel Leid und Zerstörung hinterlassen. Ich selber habe persönlich diese Kriege nicht erlebt. Ich habe das große Glück und Privileg, in friedlichen Zeiten aufgewachsen zu sein. So kann ich mir nur immer etwas vorstellen von dem endlosen Grauen, das manchmal in den Erzählungen der älteren Menschen geschildert wird.

Zudem heißt das nicht, dass es heute keine Kriege gibt. Das Heidelberger Institut für Konfliktforschung zählte im letzten Jahr 20 Kriege und 385 Konflikte. Die Kriegsschauplätze sind meist weit weg. Informationen erreichen mich allerdings über die Medien, denen ich manchmal schutzlos ausgeliefert bin. Und auch meine jüngeren Kinder hören auf der Autofahrt Nachrichten im Radio. Auto und Radio, das dürfte dir nicht allzu bekannt sein, aber vielleicht kennst du die Situation, dass ein Kind zu dir kommt und dich fragt: Kann der Krieg auch zu uns kommen? Und vielleicht kennst du den Zwiespalt in den du dann gerätst, du kennst das Gefühl, dass dir für einen Augenblick lang der Atem stockt und du nach den richtigen Worten suchst. Nein, der Krieg ist ganz weit weg. Er wird nicht hierher zu uns kommen können. Vielleicht haben die Mütter zu deiner Zeit das Gleiche zu ihren Kindern gesagt. Wenn die Kinder mich dann beruhigt anlächeln, dann drehe ich mein Gesicht einen Augenblick lang weg. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe und ob sie den Zweifel in meinen Augen erkannt haben. Es kann sein, dass mein Mann, mein Sohn, meine Freunde, meine Angehörigen rekrutiert werden. Es kann sein, dass sie irgendwann an irgendeiner Front kämpfen müssen. Ich weiß nicht, ob es Sicherheiten gibt. Ich weiß nicht, wie Menschen, die über mein Schicksal entscheiden, sich entscheiden werden. Ich weiß nur, dass das, was sie anordnen letztendlich auch mein Leben bestimmen wird.

Liebe Julia, du hast durch deinen Wunsch für den „Mother´s Day Proclamation“ versucht, die Mütter und die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, für den Frieden aufzustehen. Dafür möchte ich dir danken und darum habe ich mich entschieden, diesen Brief nicht nur an dich zu schicken, sondern an alle Mütter, die sich diesem Gedanken anschließen möchten. In diesem Jahr wünsche ich mir von meinen Kindern keine Geschenke. Außer das Geschenk, dass ich Ihnen meinen Wunsch schenken darf. Und dies aus dem einzigen Grund, dass ich sie liebe.

Zum Muttertag am 13. Mai 2018 wünsche ich meinen Kindern:

„Egal auf welche Reise ihr geht, ich wünsche euch, dass euch diese Reise in eine selbstbestimmte Zukunft führen wird und dass nicht andere Menschen, aus ihren Interessen, über euer Leben entscheiden werden“.

Mit herzlichem Gruß

Deine Melanie

*Das verwendete Foto ist eventuell urheberrechtlich geschützt – eine Quelle konnte ich nicht ausfindig machen

 

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