Ist Älterwerden frauenfeindlich?

Derzeit liegt mein aufmerksamer Blick beim Gang durch die Stadt, nicht mehr allein auf den Angeboten von Schuhgeschäften oder Buchläden, sondern vermehrt auf den Schaufensterauslagen von Optikern. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass ich eine Brille brauche. Viele Leserinnen und Leser tragen bereits seit frühster Kindheit oder seit ihrer Jugend eine Brille. Sie sind mir gegenüber im großen Vorteil, denn Sie wissen bereits, was ich mir mühsam erarbeiten musste.

Mein Bedarf nach einer Brille ist, um es auf den Punkt zu bringen, dem Älterwerden geschuldet. Exakt fünf Tage nach meinem 46. Geburtstag, poppte die Erkenntnis vor meinem Inneren Auge auf. Andauernde Kopfschmerzen, verschwommenes Sehen, Ermüdung der Augen. Ich hielt dies für die Vorzeichen einer wirklich ernsten Erkrankung. Als ich dann in einer Warte-Situation auf mein Handy blickte und das kleine Gerät immer weiter in Richtung meiner Knie schob, ich trotzdem keinen Satz entziffern konnte, wallte Panik in mir auf. Mit roten Wangen und rasendem Herzen stürmte ich nach Hause und berichtete meinem Mann aufgelöst von meinem Leiden. Er drückte mir seine Lesebrille in die Hand und sagte: „Probiere es mal damit“. Einen Tag später befand ich mich in dem Untersuchungsstuhl eines Optikers, der mich einen Augenblick lang fühlen ließ, als befände ich mich an Bord der Star Trek Voyager.

Futuristische Untersuchungen und Vermessungen ließen meine Angst schrumpfen und die Gewissheit wachsen, ich würde eine Brille brauchen. Die Augenoptikerin sah mich ernst an und fragte flüsternd: „Verraten Sie mir Ihr Geburtsdatum?“ Ich blickte in den Spiegel, mit einem Brillengestell zur Auswahl auf der Nase, und wer schaut mich nach langer Zeit wieder an? Meine Großmutter mütterlicherseits. Ganz deutlich sah ich nun auch die grauen Fäden, die mein Haar durchziehen. Als ich das Geschäft verließ, mit einem Brillen-Abholschein in der Tasche, ging ich bedacht, ich glaube auch, ich zog das linke Bein ein wenig nach.

Seit dem Tag schaue ich interessiert in die Auslagen von Optiker-Schaufenstern. Irgendetwas Gutes muss man der Situation doch abgewinnen können. Heute Morgen entdeckte ich dann eine Brillenwerbung der Marke Tom Ford. Eine Frau in Unterwäsche mit einem schönen Brillengestell auf der feinen Nase, blickte mir aus liegender Position entgegen. Ich spürte eine gewisse Verunsicherung.  Was wollte mir dieses Bild sagen? Dass ich nun in ein Alter käme, in dem ich mehr Zeit in liegender Position als auf zwei Beinen verbringen würde? Warum muss für eine Brille in Unterwäsche geworben werden? Ist es nur die effektive Strategie des Modehauses Tom Ford zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? Im Internet fand ich auf Anhieb keine Tom Ford Unterwäsche Kollektion für Frauen. Nur Brillen, Rucksäcke, Badeshorts, Fliegen, Sandalen.

Der amerikanische Modedesigner Tom Ford trägt auf einigen Bildern auch eine Brille. Ein Foto von ihm mit Brille und Unterwäsche konnte ich im Internet nicht finden. Er scheint zur Brille lieber einen schwarzen Anzug oder zumindest Hose und ein helles Oberhemd zu tragen. Die meisten Frauen, die Werbung für Unterwäsche machen, tragen auch keine Brille. Warum trägt eine Frau, die Werbung für eine Brille macht, Unterwäsche? Ich schluckte. War diese Werbung etwa sexistisch? Oder sollte sie einfach unterstreichen, dass Frauen die Brillen tragen, sexy sind? Ist das nicht eine Form von Diskriminierung? Für alle Frauen, die Brillen tragen und auch für die, die keine tragen? Und dann erst für Frauen, die Brillen tragen müssen, weil sie älter werden? Oder ist es aufmunternd gemeint? Aber, sexy zu sein und älter zu werden, das kann einen auf ganz dünnes Eis führen. Dabei wird häufig vergessen, dass ältere Frauen, eine ganz andere Art von Sexiness haben, die vollkommen losgelöst von jeglicher Funktionalität ist. Denn ältere Frauen, werden nicht mehr so häufig schwanger wie jüngere Frauen schwanger werden könnten.

Die Loslösung von Sexiness und Funktionalität, hätte ich als Werbeagentur anders dargestellt. Dann doch eher mit einer Frau in Piratenrüschenhemd. Vielleicht übertreibe ich aber auch. Vielleicht will die Werbung vielmehr sagen: du allein hast keinen Einfluss darauf, wie du bist. Denn erst durch die Augen der anderen, die dich ansehen und durch ihre Interpretation, ihre Denkleistung, das zu sehen, was sie sehen wollen, wirst du zu dem, der du bist.

Nächste Woche hole ich meine Brille ab. Es kann nicht schaden, wenn ich dabei schöne Unterwäsche trage. Diese werde ich aber sicherheitshalber verdecken, um nicht zu viel Verwirrung auszulösen. Und meine Brille werde ich als das betrachten, was sie ist und was viele langjährige Brillenträgerinnen und Brillenträger bereits wissen. Als ein Ausdrucksmittel meiner Persönlichkeit. Wie ich meine Falten trage, die ich mir hart erarbeitet habe durch nicht enden wollenden Lachsalven, große Verzweiflung, unbändige Wut oder die Nonchalance auf Sonnenschutz zu verzichten. Wie meinen etwas müde gewordenen Körper, der so viele Jahre gelaufen ist, gearbeitet hat, geliebt wurde und geliebt hat, der Kindern das Leben geschenkt hat, der von Narben, Tätowierungen, Berührungen, Wind und Wetter geformt wurde.

Immerhin habe ich im Internet ein Bild von Tom Ford gefunden auf dem er auf einem Bett liegt. Eine Brille trägt er nicht. Sein weißes Rüschenhemd ist geöffnet. Frauenhände fassen ihm an die Brust und in seinen Schritt. Über dieses Foto muss ich gesondert nachdenken. Ich habe gelesen, Tom Ford ist seit 27 Jahren mit Richard Buckley zusammen und mittlerweile mit ihm verheiratet. Vielleicht bin ich einfach prüde oder das, was in der Werbung gezeigt wird, stimmt einfach nicht immer so genau?

 

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Ein Gedanke zu “Ist Älterwerden frauenfeindlich?

  1. wie scharf Du beobachtet hast, was ich als langjährige Brillenträgerin überhaupt nicht mehr wahrnehme… ich glaube, es wird Zeit für eine neue Brille! Liebe Grüße

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