Heute fuhr ich mit der S-Bahn in die Innenstadt. Kaum saß ich auf meinem Platz, hörte ich die freundliche Stimme eines Mannes, der mich fragte, ob ich ein Ticket hätte, auf dem er mitfahren könne. Ich blickte auf. Vor mir stand ein nahezu zerbrechlich wirkender Mann, von der Last seiner Supermarkt-Plastik-Einkaufstüte, aus der Bierflaschen, gefüllt und bereits geleert herausragten, schien er fast zu Boden gezogen zu werden.
Aus braunen Augen, umkreist von feinen Lachfältchen, schaute er mich erwartungsvoll an. Ich sagte ihm, dass er gerne bei mir mitfahren könne. Er setzte sich in den freien Vierersitz mir schräg gegenüber. Immer wieder musste ich zu ihm hinüberschauen. Seine Bewegungen waren zurückhaltend. Sein rechter Arm lag locker auf dem Sitz, die linke Hand hielt eine Bierflasche umklammert. Ich spürte wie es sich entspannte. Unvermittelt begann zu erzählen. Ich blickte von meiner Handytastatur auf. Er sagte, er käme aus einer kleinen Stadt, dort wäre nicht viel los. Er erzählte, dass er gestern ins Krankenhaus musste, er wurde geschlagen. Ich sah das Pflaster, das eine Wunde am Rand seiner linken Augenbraue klammerte. Es wäre nicht so schlimm, sagte er. Vor einigen Jahren wurde er wirklich verprügelt. Mehrfacher Kieferbruch und eine zerquetschte Schilddrüse. Seitdem müsse er Medikamente nehmen. Er sagte, er verstehe die Menschen nicht, die dies tun. Er wisse ja um seine Schwäche, seine Sucht. Ich bemerkte, wie er die Hand, die die Flasche umklammert hielt, unter seine Jacke schob. Er erzählte von den Ausbildungen, die er begonnen und abgebrochen hatte. Er erzählte von seiner Zeit als Schüler. Seine Eltern waren Migranten mit wenigen Deutschkenntnissen. Er wurde auf die Sonderschule geschickt. Die hieß damals noch Behindertenschule. Erst später wechselte er auf die Hauptschule, wo er gefördert wurde. All dies erzählte er mit einem fröhlichen Ton in der Stimme. Ganz ohne Groll. Nur ein ganz klein wenig Traurigkeit durchwebte seine Worte, als er sagte, seine Eltern hätten vergessen ihm zu sagen, dass das Leben kein Ponyhof wäre.
Doch dann erzählte er wieder von seiner Kindheit. Von seiner Angst vor dem Schulweg. Er musste eine Abkürzung nehmen durch ein dunkles Stück Wald. Ihm fehlten 4 km, um ein Schülerticket zu bekommen. Meist ging er gemeinsam mit seinen drei Freunden. Doch oft waren sie schneller als er. Dann musste er sich beeilen. Im Winter, um 7:00 Uhr morgens, in der absoluten Dunkelheit. Ich fragte mich, ob er sich die Pflanzen auf seinem Schulweg anschaute. An den Wald grenzte eine Villengegend. Es gab Ärger, wenn sie dort die Abkürzung durch die Gärten nahmen. Er musste 12 Jahre alt gewesen sein, als er neben den Pflanzen und den Häusern schließlich die Menschen entdeckte, die in seiner Nachbarschaft lebten. Einer von ihnen war Roy Black. Damals, 1990, hatte er den Höhepunkt seiner Schlager- und Schauspielkarriere bereits lange überschritten. Roy Black hatte zudem mit einem kranken Herzen zu kämpfen. Behandlungen fanden auch im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke statt. Vielleicht gefiel es ihm dort so gut, dass er sich entschloss, dort ein Haus zu kaufen. Mein mir namentlich unbekannter Mitfahrer erzählte wie eine Limousine oft seinen Weg kreuzte. Langsam durch den Wald fuhr, in der morgendlichen Dämmerung. Die Rücklichter verheißungsvoll funkelnd. In ihr Roy Black, dem damals mit der Serie „Ein Schloss am Wörthersee“ ein beachtliches Comeback gelang. Der Wagen fuhr Richtung Bayern. Begleitet von den Blicken des Kindes und seinen Fragen, wie ein Star wohl so lebte. So dicht bei ihm und doch so weit weg. Einmal da fasste er all seinen Mut zusammen und klingelte an der Tür des Stars. Es war Sommer und furchtbar heiß. Er brauchte ein Glas Wasser oder vielleicht auch nur eine Gelegenheit. Die damalige Lebensgefährtin von Roy Black öffnete die Tür. Ihm stockte der Atem. Sie war atemberaubend schön – wie ein Engel. Freundlich und ohne weitere Fragen gab sie ihm ein Glas Wasser. Mein Mitfahrer lächelte, versunken in der Erinnerung. Er sagte, heute dürfe man nicht mehr Behindertenschule sagen. Er findet es gut. Denn es verletze die Menschen doch sehr.
Roy Black litt oft unter dem, was Menschen in ihm sahen und über ihn sagten. Vielleicht fehlte ihm die Kraft sich dem Urteil der anderen zu entziehen? Er starb 1991 allein in seiner Fischerhütte an Herzversagen. Mit einer nicht bestätigten, nicht unerheblichen Menge Alkohol in seinem Blut.
Ich frage mich, ob Roy Black den Jungen am Waldrand sah, aus dem Fond seiner Limousine heraus. Vielleicht kannten sich die beiden besser als sie wussten.