Mitte des Jahres erhielt ich einen größeren Auftrag als Dozentin. Da die Gelder für diesen Auftrag recht kurzfristig freigegeben worden waren, freute ich mich besonders über die zusätzlichen Einnahmen. Ich zog die Steuern ab, Sozialversicherungsabgaben und den Anteil, der in die Familienkasse fließen sollte.
Übrig blieb ein kleiner Rest, der es schaffte, mich in wunderbare Fantasiewelten zu entführen. Weihnachtsshopping in Paris? Das aktuelle Thalys-Angebot liegt bei 30€. Einfach so nach London auf ein Gurkensandwisch und eine Tasse Kamillentee?
Monate später war der Auftrag abgeschlossen und das Geld auf meinem Konto verbucht. Zwei Wochen zuvor war die Glasscheibe der Backofentür zersprungen. Die Winterunterwäsche für die Kinder aus dem letzten Jahr passte nicht mehr und ein Auftrag für Januar war abgesagt. Finanzpolster mussten geschaffen werden, besonders mit dem Blick auf die Strom-Nachzahlung. Die Realität holte mich mit klammen kalten November-Fingern ein. Niedergeschlagen realisierte ich, ich würde niemals zwei Stunden in einer Schlange vor einer angesagten Bäckerei in New York auf mein Cronut warten. Ich würde nicht durch die Straßen der Welt-Metropole spazieren und einen Original Banksy in Soho entdecken und ihn als Erste auf meinem Instagram-Account posten. Für mich gab es kein Entkommen aus der Provinz.
Und würden die Kinder eigenes Geld verdienen, wären alle Kredite abbezahlt, wäre ich viel zu alt, um noch die Kraft und den Willen aufzubringen, auf coolen Kunst-Partys in leergeräumten Lofts über dem Hudson River Smalltalk im Dunstkreis von Julian Schnabel zu führen. Ich klappte mein Haushaltsbuch zu und machte mich auf den Weg in ein kleines Theater im Ruhrgebiet. Dort war ich mit der Theaterdirektorin zur Besprechung eines Kooperationsprojektes verabredet. Mit ein wenig Verspätung, da ich eine Straßenbahn knapp verpasste, betrat ich den eindrucksvollen Sechziger-Jahre-Bau, traf junge Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit zerwühlten Frisuren, Matcha-Smoothies in Tassen auf denen Dinge wie „Denken ist wie googeln, nur viel krasser“ standen, lässig aufgeregt durch die Flure rauschten. Ich traf die Theaterchefin in einem leergeräumten Raum, im Schneidersitz auf dem Boden, mir einen irritierten Blick zuwerfend. In Sekundenbruchteilen wurde mir bewusst, sie wusste nicht wer ich war, noch was ich dort wollte. Eine junge Schauspielerin tippelte leichtfüßig an mir vorbei und schloss hinter sich die große Tür. Gerade zu Atem gekommen ließ ich den Kopf sinken. Ich hatte den Weg umsonst auf mich genommen, die Zeit war verloren. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof gönnte ich mir beim Italiener einen doppelten Espresso to go. Im Kännchen auf der Herdplatte gekocht. Im Bahnhof angekommen, um die Nerven zu beruhigen, ein Gepäckteil in Blütenform mit violettem, klebrigem Zuckerguss verziert, aus der Auslage einer großen Donut-Kette.
Als ich durch leichten Nieselregen die Straße erreichte, in der ich wohne, wunderte ich mich über die Ansammlung von Menschen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Eine Gruppe von ungefähr 5 Personen, die in ein aufgeregtes Gespräch vertieft auf meine Fensterfront schauten. War ich über Nacht, völlig unbemerkt, doch zu Berühmtheit gekommen? Hat er sich in meinem Haus ein Verbrechen ereignet? Neugierig stellte ich mich zu Ihnen. Sie zeigten auf die Hausfassade des Nachbarhauses. Mein Blick wanderte zu einem erleuchteten Erker-Fenster, durch das eine Multi-Media-Präsentation zu sehen war. Ein Film, der in faszinierenden, eindrucksvollen Bildern und avantgardistischer Typografie Lichtsalven auf die bereits dunkle Straße warf.
Ich fragte wer dort wohne? Wer für dieses Kunstprojekt verantwortlich wäre? Es stellte sich heraus, dass das Kunstprojekt von der Gruppe Leuchtstoff inszeniert worden war, die einen großen Kunst-Preis dafür gewonnen hatte. Die Zuschauer freuten sich über den ungewöhnlichen Veranstaltungsort, bejubelten die Genialität der Künstler, die seit langer Zeit unbemerkt meine Nachbarn waren. Mit dem Geschmack des doppelten Espresso auf meiner Zunge, der wunderbaren Erinnerung des klebrigen Zuckergusses und den Klang des Lachens der jungen Schauspielerin im Ohr, fragte ich mich, wer von meinen Nachbarn noch ein getarnter Künstler war. Ich lächelte über die Begegnung mit der Theaterdirektorin. Über den Hauch großer Kunst, die mich durch diesen Nachmittag getragen hatte. Eigentlich ist es ganz einfach: Überall ist New York. Ich würde nicht mal mehr meinen Kontostand prüfen müssen. Es reicht, mit offenem Blick durch meine Stadt zu gehen.