Ihr sollt schleppen bis das Schlüpfergummi reißt!

Eines vorweg: ich liebe es zu shoppen! Der Gang durch ein Einkaufszentrum wirkt auf mich beruhigend und inspirierend. Geradezu als fühle ich den Geist der Frauenbewegung durch die Gänge wehen. Wie einst im berühmten Londoner Kaufhaus Harrods, das eine eigene Abteilung hatte, in der es alles zu kaufen gab, was die Suffragetten für ihre Frauenbewegung benötigten.

Ich gerate in einen wahren Freudentaumel, stehe ich in Paris vor der Schaufensterauslage von Gucci. Dann erinnere ich mich an die Geschichte des Markengründers Guccio Gucci. In cineastischen Bildern sehe ich den jungen Aufzugführer Guccio in seiner Pagenuniform im Savoy Hotel in London die Knöpfe des Aufzuges drücken und dabei aus dem Augenwinkel auf die wohlhabenden Hotelgäste und ihr Gepäck schielen. Fast kann ich spüren wie in ihm die Idee wuchs, ebensolches Gepäck zu entwerfen.

Stundenlang kann ich mich in Fotostrecken der Vogue vertiefen, in denen die neuste Chanel Kollektion vorgestellt wird. Mir ist dann, als höre ich das selbstbewusste Lachen des Waisenkindes Gabrielle Chasnel, besser bekannt als Coco Chanel, und ihre revolutionäre Idee, Mode für die moderne Frau zu entwerfen. Mode, in der sie tanzen, reiten, arbeiten kann.

Am letzten Samstag wollte ich nach einem Paar Herbststiefel schauen, über dessen Kauf ich nun bereits seit drei Wochen nachdenke. Ich brauche sehr, sehr lange, um einen Kauf zu vollenden. Aber gerade diese Zeit, zwischen dem ersten Erblicken des Objekts der Begierde und dem Vollziehen des Kaufes, ist für mich die schönste. Fast so etwas wie eine zarte Liebesgeschichte. Hält das Objekt der Zeit Stand? Finde ich es nach drei Wochen ebenso begehrenswert wie beim ersten Anblick im Schaufenster? Lohnt sich die Anschaffung auch ganz rational? Passt es in mein Haushaltsbudget, brauche ich es wirklich? Ich stelle mir vor wie ich mit ihm leben werden. Zu was kombiniere ich die neuen Stiefel? Halten Sie dem Regen stand? Wird es in diesem Herbst überhaupt regnen? Und wenn es regnet, wie verbringe ich dann die freien Sonntage? In meiner Vorstellung träume ich von einem goldrot schimmernden Herbst. Ich spaziere durch den Wald, sammle Kastanien, setze mich auf eine Bank und genieße die Oktobersonne, die mich mit Kraft erfüllt. Manchmal habe ich mich an diesem Punkt bereits von meinem Wunsch, etwas zu besitzen, weit entfernt. Mir wird bewusst, dass auch die alten Stiefel genügen, um auf der Bank zu sitzen.

Am letzten Samstag wollte ich aber meinen Entschluss in die Tat umsetzen und die Stiefel tatsächlich kaufen. Entschlossen betrat ich die prallgefüllte Fußgängerzone und hörte plötzlich lautes Gebrüll, das meine Aufmerksamkeit erregte.

Eine verzerrte Stimme, ähnlich dem Aufruf, eine Fahrt auf dem Kirmeskarussell zu wagen, schrie dumpf und gleichzeitig schrill: Ihr sollt schleppen bis das Schlüpfergummi reißt! Die Stimme kam aus einem Ladenlokal, das dunkel, mit zur Seite weit geöffneten Türen vor mir lag. Vorsichtig näherte ich mich, ganz so, als näherte ich mich den Toren zu Dantes Inferno.

Ein schrecklich beißender Geruch schlug mir entgegen, vermischt mit dem Duft nach Schweiß und Verzweiflung. Menschentrauben schoben sich zombieartig durch enge Gänge. Vor mir ein riesiger Tisch, auf ihm gestapelt Taschen aller Art. Ein Mann kam im Sekundentakt aus dem hinteren Teil des Ladens und warf neue Taschen oben auf den Berg. Ich hielt inne, schnappte nach Luft. Mir wurde übel. Taschen für zehn Euro, Schuhe für sechs Euro, dazu die penetrante Stimme: Kauft bis es kracht, nie war es so billig wie heute! Nehmt, so viel ihr tragen könnt. Konsumiert als gäbe es kein morgen!

Ich bin kein Illusionist. Ich weiß wie es ist, wenn das Geld fehlt, um dem Kind die dringend gebrauchten Turnschuhe für den Schulsport kaufen zu können. Ich kann nachempfinden, dass es Menschen gibt, die teilhaben wollen an der Glitzerwelt der Modezeitschriften, der glücklich, Vergessen machenden Welt der Vorabendfernsehserien.

Auch weiß ich, dass es Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch gibt, die traurig darüber sind, dass die Bestellungen der westlichen nimmersatten Konsumenten zurückgehen. Die verzweifeln, dass ihre Überstunden wegbrechen. Denn die gut 80 Stunden Wochenarbeitszeit reicht nicht aus, um ihre Familie mit dem Nötigsten zu versorgen. Sie am Leben zu halten. Ich weiß, dass sie diesen Job in den großen Hallen, die europäischen Sicherheitsstandards spotten, trotz aller menschenunwürdigen Bedingungen brauchen.

Benommen taumle ich aus dem Laden, stoße in der Fußgängerzone mit Menschen zusammen, die nicht eine Primark-Tüte tragen, sondern an jedem Arm, in jeder Hand drei von Ihnen. Ich bin traurig, habe keine Lust mehr nach meinen Stiefeln zu schauen. Und ich werde wütend.

Die Menschen, die diese Taschen verkaufen, die Menschen, die Ladenlokale an diese Billigfirmen vermieten, zerstören eine Sehnsucht. Sie zerstören einen Traum, sie zerstören Hoffnungen. Sie machen alles kaputt was dem Kaufen, dem Konsum, ein Rest Würde verleiht. Der Wunsch nach Ästhetik. Der Wunsch, sich mit schönen Dingen zu umgeben. Etwas Gutes für sich zu tun. Handwerk, Ideenreichtum und Leidenschaft der Designer anzuerkennen und wertzuschätzen. All das begraben auf dem Ladentisch unter den Massen billiger Plastiktaschen.

Warum nicht ein wenig Demut vor der Arbeit der Menschen beweisen, die all diesen überbrodelnden und irrsinnigen Konsum möglich machen? Die manches Kleidungsstück, das in unseren Läden hängt, mit ihrem Leben bezahlt haben. Warum nicht ein bisschen mehr Demut von der Natur? Vor dem Wasser, das zur Produktion der Güter verbraucht wird. Das verseucht wird durch den Einsatz der Chemikalien, die nötig sind, all diese Waren herzustellen. Warum diese schnelle Taktung? Alles haben wollen und zwar alles sofort? Ohne eine Sehnsucht, ohne ein Gefühl. Die große Pornografie des Konsums.

Heute scheint zum Glück die Sonne. Ich kann Abstand gewinnen. Ich kann mich auf eine Parkbank setzen, ich kann die Ruhe genießen, die schönen Farben der Herbstblätter bewundern. Ich träume mich in eine kleine Schneiderei. Sehe einen Visionär, der  versucht die Farben des Herbstes einzufangen und in ein Kleid einzuweben. Ich habe die Freiheit mich zu entscheiden und es spielt keine Rolle, welche Schuhe ich dabei trage.

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