Nicht gesellschaftsfähig

In meiner Jugend hatte ich ein klares Bild davon, was es bedeutet nicht gesellschaftsfähig zu sein. Dieses Bild hatte das Gesicht von Marylin Monroe. Es gibt einen Film mit ihr, der Misfits – „Nicht gesellschaftsfähig“ heißt und in dem sie die weibliche Hauptrolle spielt. Nicht gesellschaftsfähig zu sein, bedeutete damals für mich, ein wenig zu sein wie Marylin. Ein wenig neben der Spur, ein wenig zu viel, zu laut, zu bunt, ein wenig zu schrill.

Dass Marylin Monroe auch ein wenig zu intellektuell, zu empathisch, zu verletzlich war, das wusste ich damals noch nicht. Das erkannte ich erst, nachdem ich die äußere Faszination an ihrem Kunstbild überwinden konnte und mich mit Norma Jean Baker beschäftigte, die sie ja auch war. Auf jeden Fall dachte ich, nicht gesellschaftsfähig zu sein bedeutet, zu anstrengend für die Gesellschaft zu sein. Als ich dann älter wurde, bereicherte sich dies Bild um die Adjektive exzentrisch, politisch links, alternativ, psychisch labil, hysterisch, dramatisch, alkoholisiert. Laut singend auf Tischen zu tanzen, nicht zur Schule zu gehen, den Alltag in Tagträumen zu vergessen. Es bedeute für mich, nicht von der Gesellschaft gewollt zu sein, nicht zur Gesellschaft zu passen.

Vor einigen Tagen habe ich noch eine weitere Bedeutung von „nicht gesellschaftsfähig“ begriffen. Auf meinem Weg ins Büro kam ich an einem Obdachlosen vorbei. Er saß in einem Rollstuhl in einer dunklen Ecke unter einer Brücke und rief mich zu sich herüber. Er verwickelte mich in ein Gespräch und bat um etwas Geld für ein Frühstück. Er erzählte mir, er käme extra für ein großes Musikfest in die Stadt, dass an diesem Wochenende stattfinden würde. Er erzählte mir, heute wäre sein 71. Geburtstag. Immer wieder kämpft er mit Tränen und ich hatte schnell den Eindruck, er war gar nicht so sehr an meinem Geld interessiert, sondern vielmehr an einem Gespräch mit mir. Er bat mich, ihn aus der dunklen Ecke hinaus in die Mitte des Platzes zu schieben, in die Sonne. Er nannte mir seinen Namen, sagte, er liebe diese Stadt und die Musik, doch er wünschte, er müsse die Nacht nicht draußen im Freien verbringen. Die Zeit drängte und ich musste ins Büro. Auf der Arbeit angekommen, ging mir sein Bild nicht mehr aus dem Kopf. Ich sah diesen alten, augenscheinlich kranken Mann in seinem wunderschön, extra für das Musikfest mit Kunstblumen und Windrädern geschmückten Rollstuhl.

Sollte ich irgendwo anrufen und fragen, was ich noch tun konnte? Vielleicht schaffte ich es, einen Schlafplatz zu organisieren. Also rief ich bei einer Obdachlosenzeitung an. Ich fragte einen Mann am Telefon wie ich irgendwie helfen könnte. Die Ansprechpartner in der Redaktion waren alle in einer Besprechung. Der junge Mann, den ich am Apparat hatte, wusste auch nicht wirklich weiter und riet mir, die Bahnhofsmission anzurufen.

Das machte ich dann auch. Bei der Bahnhofsmission sagte man mir, dass sie leider nicht vom Bahnhof weg könnten und sich daher auch nicht um den Mann kümmern könnten. Sie sagten, es wäre sehr rührend, dass ich mich für das Schicksal des Mannes interessierte. Ihr Tipp war, bei der Polizei anzurufen.

Dort erzählte ich meine Geschichte. Der Mann riet mir, ich solle nicht alles glauben, was Obdachlose erzählen und leider wäre die Polizei auf jeden Fall nicht der richtige Ansprechpartner. Ich sollte es eher bei einer kirchlichen Einrichtung versuchen. Meine Arbeitszeit war um und ich musste zurück zum Bahnhof, um zu einem weiteren Arbeitseinsatz zu kommen. Auf meinem Weg sah ich den Mann nochmals in der Sonne sitzen, jetzt mit einem Hut auf dem Kopf und geschlossenen Augen. Er sah mich nicht und ich ging weiter – an ihm vorbei.

Und doch spürte ich, das konnte noch nicht alles sein. Etwas weiter traf ich einige junge Organisatoren des Musikfestivals. Ich erklärte mein Anliegen und fragte sie, ob es irgendwo einen medizinischen Einsatzwagen gebe und ob man vielleicht am Abend einmal nach dem Mann schauen könnte. Ich versicherte, er wäre leicht zu erkennen. Einer der jungen Männer sagte mir, dass in dieser Nacht wohl 400 Menschen draußen schlafen würden. Ich sagte: „Gut, aber die wenigsten von ihnen sind 71 Jahre alt und sitzen in einem Rollstuhl“. Jetzt grad können sie nichts tun, schulterzuckend gingen sie weiter. Auf dem Bahnsteig angekommen, rief ich bei einem kirchlichen Träger an, der auf Obdachlose spezialisiert ist. Dort gab man mir viele Informationen, sagte mir, wohin der Mann kommen könne und dass ich ihm all diese Informationen geben könne. Ich müsse weiter, sagte ich, ich selbst müsse zur Arbeit und später meine Kinder abholen. Wenn ich ihn morgen sehen würde, könnte ich ihm doch alles sagen, riet mir die Frau und dann sagte sie noch: Obdachlose erzählen oft Lügengeschichten, ich solle nicht alles glauben.

Erschöpft und wütend ließ ich das Telefon sinken und stieg in meinen Zug. Mir war es egal, ob der Mann mir eine Lügengeschichte erzählt hatte. Wenn er doch heute Geburtstag haben wollte, so gönnte ich es ihm von Herzen, seinen Geburtstag heute zu feiern, auch wenn sein eigentlicher Geburtstag eigentlich im Spätwinter ist.

Warum war es so wichtig, diese Sache mit dem Lügen? Ist es wichtig, keine Lügen zu erzählen, um die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft zu legitimieren? Und was ist dann mit all den Menschen, die derzeit beim G20-Gipfel in Hamburg sind?

Politiker, Funktionäre, Lobbyisten, Rüstungskonzernvertreter, Sicherheitsberater. Sind das die Menschen, die im Randbereich der Gesellschaft zu finden sind? Wie der Obdachlose, in der Pippiecke unter der Brücke? Ist das Gesellschaft? Die in der Mitte und die am Rand? Alles was ich wünschte war, dass irgend jemand, der sowieso in der Stadt vor Ort ist am Abend einmal nach dem Mann schaut. Jemand der Erfahrung mit Obdachlosen hat. Ich konnte das nicht sein. Ich konnte am Abend nicht in dort sein. Zudem habe ich keine Erfahrung im Umgang mit Obdachlosen. In meiner Traumvorstellung malte ich mir aus, dass eine Gesellschaft Sorge und Verantwortung für einander trägt und übernimmt. Ich dachte, irgendjemand von einer dort ansässigen Einrichtung, könnte jemanden schicken, um nach dem Mann zu schauen. Wer in Not ist, kann er ja zu uns kommen! Eine Gesellschaft, die erwartet dass die Menschen, die in Not sind, zu Ihnen kommen und die es nicht schafft, von sich aus zu kommen, ist das nicht auch eine Gesellschaft, die eigentlich nicht gesellschaftsfähig ist? Die nicht in der Lage ist auf ihre schwächsten Mitglieder aufzupassen? Hätte ich noch mehr tun müssen? Schafft es einer allein? Am Nachmittag war ich schlauer als am Morgen. Ich habe Kontakte, Telefonnummern, und Adressen. Nach einer unruhigen Nacht, habe ich den Mann im Rollstuhl am nächsten Morgen gesucht, gefunden habe ich ihn leider nicht mehr.

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